Yvonne Pouget – Fascial Flow
»Man braucht nur elementare Literatur über die Funktion des Gehirns, das Nervensystem und die Stress-Physiologie zu lesen, um zu verstehen, dass Psyche und Körper unbestreitbar miteinander verbunden sind« (Babette Rothschild)
“Die Wiederentdeckung des Körpers und das Konzept ganzheitlicher Behandlung müssen als die wichtigsten Errungenschaften moderner (Psycho-)Therapien
angesehen werden.” Hilarion Petzold (1977)
Fascial Flow ist eine Methode zur Behandlung (komplexer) Traumafolgestörungen die an den aktuellen Forschungsstand anknüpft und auf der Struktur der Faszien unter Integration des Nervensystems ansetzt, und den gesamten Organismus und das gesamte Gehirn anspricht. Die Methode nutzt die Struktur der Faszien als Körperressource, da Faszien sich regenerieren können. Ebenso wie sich das Gehirn durch das Phänomen der Neuroplastizität und der Neurogenese, also die Fähigkeit, zeit seines Lebens neue Nervenverbindungen und neue Zellen zu bilden, nicht nur immer wieder reorganisieren, sondern auch von Grund auf erneuern kann.
Für die Grundlage auf die die Theorie der Methode aufbaut ist die Lateralität der Hirnhemisphären wichtig. Das Erklärungsmodell der muskulären Dis-Balance ist: nämlich dass die linke Hemisphäre die rechte Körperseite steuert und die rechte die Linke, das ist für die langen Faszien-Ketten, da diese über Kreuz laufen relevant.
Für den Wirkungsmechanismus ist wichtig, das sich über 80 Prozent der freien Nervenenden des Organismus in der Faszie, die die Muskeln des Bewegungsapparats gegen die Unterhaut abgrenzen befinden. Dass zwischen Großhirn, Rückenmark und den Faszien eine autonome Kommunikation stattfindet. Dass körperliche Erfahrungen in den Nervenzellen der Faszien gespeichert werden. Die aktuelle neurobiologische Forschung spricht in diesem Zusammenhang vom „Gedächtnis der Faszien“ in dem die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen eingeschrieben ist.
Ein Antragstext für ein MusikTanztheater aus dem Jahr 2015 von Yvonne Pouget:
Der Fremde Körper- das verwundete Gehirn: Senza Corporalità
(komplexe) Posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt (komplexe )PTBS oder in den englischen Variante PTSD, oder dissoziative Störung bei komplexer PTBS lautet die Diagnose, die Beschwerden wie Gedächtnisverlust, Erinnerungslücken, Schlaflosigkeit, Depressionen, Ängste und Dissoziative Phänomen, die sich auf der Körperebene in Lähmungen, Bewegungsstörungen, Krampfanfällen und Empfindungsstörungen wie Seh- und Hörstörungen ausdrücken, zusammenfasst. Anders als immer noch im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist PTBS keine psychische Erkrankung, sondern vielmehr eine Erkrankung die den ganzen Organismus einschließt, eine „Wunde im Gehirn“. (komplexe) PTBS führt zu einem gestörten Körpererleben, Betroffene erleben unter (extremen) Belastungssituationen bestimmte Körperteile als nicht mehr zu ihnen gehörig, bzw. sie haben sie nicht mehr unter willentlichen Kontrolle.
Die Freudsche Psychoanalyse beschäftigt sich mit dem Menschen, spart jedoch den Körper weitgehend aus. Sie arbeitet auf verbaler Ebene und bezieht den Körper in die Analyse gar nicht ein. Die körperlichen Auswirkungen einer PTBS und dissoziative Bewegungsstörungen beruhen Freud´s Hysterie Konzept folgend auf Einbildung oder Simulation. Die moderne Hirnforschung belegt dagegen, dass solche körperlichen Symptome Auswirkungen von hirnorganischen Veränderungen sind, und es sich nicht um Simulation, sondern um eine gestörte willentliche Kontrolle der Motorik handelt. Der Betroffene kann sich nicht bewegen, da Impulse im Gehirn eingefroren werden. Der Organismus bleibt entweder ganz in einem Todstellreflex stecken, oder Impulse werden nur teilweise in einer fragmentarischen Version aus dem Gehirn in den Körper eingespeist. Der Arm hebt sich dann nicht, sondern zuckt, der Körper krampf. Das Sprachzentrum koppelt sich ab, es wird „von der Leitung genommen“. Körperliche Dissoziative Phänomene sind damit als die Folgen einer Funktionsstörung des Gehirns zu begreifen, sie sind nicht verhandelbar, sie beruhen nicht auf Einbildung oder Simulation. Ein Patient mit komplexer PTBS kann seine körperlichen Symptome genauso wenig steuern, wie ein Parkinsonkranker sein Zittern willentlich steuern kann. Beim passenden Triggerreiz fiel die Hysterikerin Ende des 18. Jahrhunderts von ihren Ärzten vorgeführt wie ein Pawlowscher Hund, krampfend zu Boden.
Der Körper nun ist integrierter Bestandteil der gesamten Persönlichkeit. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass der Köper in der Therapie, und erst recht in der Traumatherapie wahrgenommen und behandelt wird. Denn aus den körperbezogenen Psychotherapien, die nicht auf Kasse abgerechnet werden können, ist hinreichend bekannt, dass häufig erst Körperübungen einen Zugang zum Körpererleben eröffnen und auch dann erst ein Zugang zu frühkindlichen Einschreibungen möglich ist. Erst die praktische Erfahrung und die theoretische Durchdringung der körperbezogenen Psychotherapien hat ein neues Verständnis von dem kranken Körper in der Psychotherapie vermittelt.
Patienten die unter Dissoziativen Phänomenen leiden, finden aber leider auch heute noch nur sehr schwer eine ädequate Behandlung. Ambulante Traumatherapie auf Krankenkasse- wenn man denn einen der raren freien Plätze ergattern sollte- beziehen den Körper nicht mit ein, den Therapeuten fehlt die körperbezogene Ausbildung. EMDR bei dem der Therapeut Finger vor dem Gesichtsfeld des Patienten bewegt, bildet die einzige Ausnahme. Hinzukommt, das Betroffene häuft falsch diagnostiziert und Freund´s Konzept folgend weiter als „Neurotiker und Simulanten“ stigmatisiert und retraumatisiert werden, und sich Ihre Zustand verschlechtert. Therapeuten, die auf Kasse arbeiten ist es außerdem per se verboten ihre Patienten anzufassen.
Ein Exkurs nach Süditalien, Hysterie und Tarantismus, Material für den Laien-Bewegungs-Chor
Bis in die 50ziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein konnten im Salento/Süditalien Frauen, die nach schweren traumatischen Ereignissen Dissoziative Symptome einer komplexen Traumafolgestörung (PTBS) entwickelten mit Hilfe dieses therapeutischen Musikrituals erfolgreich behandelt werden. Die Musiker mussten ein Musikstück, einen Rhythmus finden, das die erstarrte Frau in „kopflose“, Bewegung brachte. Durch ungefilterte, willkürliche Bewegungen, bei denen die Muskeln und Faszien ihre aufgeladen (Über-)Spannung entladen konnten, gelang es die Frau von ihren Symptomen zu befreien. Das Ritual wurde ohne Unterbrechung über mehrere Tage durchgeführt, mehrere Frauen kümmerten sich um den sich windenden Körper der Frau, behüteten den Körper, hielten ein Kissen unter dem Kopf, damit die Frau sich nicht verletzen konnte, und standen ihrer Seele durch ihre Gebete und Gesänge bei. Sie unterstützten die „Tarantata“ bis der Organismus der körperlich völlig erschöpften Frau sich in eine Art von Brücke auf dem Kopf, die an die Position des „Arc de Cercle“ denken lässt, aufbäumte (Der Arc de cercle (franz.:Kreisbogen) oder große Bogen ist ein von Jean Martin Charcot (1825–1893) beschriebenes Phänomen, welches im Zusammenhang mit dem großen hysterischen Anfall (Hysterie grande) auftritt. Der Körper wird dabei kreisbogenartig nach hinten überstreckt. Der Kopf wird in den Nacken gelegt und auf die Unterlage gepresst, während der Rücken durch die Überstreckung angehoben wird).
Über die Beobachtung, Analyse und Auswertung der natürlichen Fähigkeit des Menschlichen Organismus den Discharge zu entladen, welche im menschlichen Nervensystem angelegt ist, welches z.B. die amerikanische Körpertherpieform TRE, Myofaszial Unwinding oder die Myoreflextherapie nutzt, ist die Wirkung des Tarantismus mit propriozeptive Rückmeldungen (Propriozeptoren sind Muskel-, Gelenk- und Sehnenrezeptoren, die Informationen über die Haltung und Bewegung des Körpers an das Zentrale Nervensystem weiterleiten) die im Gehirn eine Neuorganisation herbeiführen gut zu erklären. Aus diesem Ansatz hat Yvonne Pouget, die selbst an komplexen PTBS leidet, eine eigene spezifische Form von Faszientraining mit Integration des Nervensystems entwickelt.
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Hemisphärenimbalance
Jede der beiden Gehirnhälften besitzt einen Hippocampus und eine Amygdala. Durch Trauma und Dissoziation kommt es zu Veränderungen im Hippocampus, in dem überwiegend der faktische Teil der Erfahrung verarbeitet wird und der so genannten Amygdala, in der die unbewussten Emotionen gebündelt werden. Durch Trauma und Dissoziation kann es zu einer verschobenen Gewichtung im Zusammenwirken der zwei Gehirnhälften kommen, welche sich in den Körper überträgt. Über die Struktur der Faszien unter Integration des Nervensystems und der Augenmuskeln können beide Hemisphären erreicht werden. Pouget´s Therapiemethode gleicht mit diesem Ansatz Ungleichgewicht und Unterdrückung in den Gehirnhälften aus, eine Neuvernetzung findet statt.
“Es ist klar, daß die entscheidende Form im Umgang mit Dingen nichts anderes als die Berührung sein kann. Und da es so ist, sind Berührung und Kontakt die unbedingt wichtigsten Faktoren in der Struktur unserer Welt.”
José Ortega y Gasset (1957)
“Man sollte nicht sprechen von der Kunst glücklich zu sein, sondern von der Kunst sich glücklich zu fühlen” Marie von Eber-Eschenbach
Der Körper kennt die Wahrheit und ist der Schlüssel zum Glück.
Jedes Kind kennt das jauchzende Glück auf einer Schaukel, und dieses Glück ist körperlich. Wie wir uns fühlen entsteht viel mehr in den Eingeweiden und in den Faszien als im Gehirn belegt die aktuelle Forschung. Reden wird überbewertet, der Körper ist der Schlüssel zum Glück und zum Heil-werden, der Körper trägt die Last und kennt die Wahrheit. Jeder Organismus besitzt Weisheit und enorme Selbstheilungskräfte.
“In einer Stunde Spiel finden wir mehr über einen Menschen heraus, als wenn wir uns ein ganzes Jahr lang mit ihm unterhalten”. Platon
Fascial Flow hat das Ziel, den Körper als Ressource von Lebendigkeit, Lebensfreude und Glück (wieder-) zu entdecken. Sich wieder wohl in seine Haut, und eins mit sich selbst zu fühlen. Die Spuren und Vernarbungen seelischer und körperlicher Verletzungen zu heilen. In meiner Arbeitsphilosophie stehen Geist, Seele und Körper dabei als eine untrennbare Einheit, denn diese Einheit ist es, die unser Empfinden von uns Selbst, unserer Identität nährt. Sich dem eigenen Selbst bewusst zu sein, das Empfinden von Identität ist die Nahrung für alles Seelische, ohne Identität können wir uns anderen Menschen nicht öffnen, nicht vertrauen. Ohne unser Selbst, ohne Identität verlieren wir den Innern Halt und die Haltung, die Seele kann ihre grenzenlose, ungeahnte Kräfte nicht entfalten, und das was uns zerrüttet kann nicht überwunden, transformiert werden. Die Seele kann ihre Flügel nicht entfalten, das Auslöschen der Identität vernichtet das Selbst, der Leib geht daran zu Grunde.
Trauma und Dissoziation beutetet wie eine Fliege in Bernstein eingeschlossen in der Vergangenheit festzustecken. Seine Füsse und Hände ganz fühlen zu können, sein Becken, den Rücken, seine Haut wieder fühlen zu können, dieses Spüren ist das Gegenteil von Dissoziation. Seinen Körper, die Haut erfühlt zu können bedeutet in der Gegenwart zu sein. Und darum geht es, konkret im Organismus aufzulösen, das das Heute ein Gestern ohne Morgen ist. Wir müssen gegenwärtig sein, um in die Zukunft blicken zu können, sonst könnten wir uns auch gleich einsargen lassen.
Auszug Süddeutsche Zeitung 22.10.2018 “Psychosomatik – Der menschliche Faktor”:
“Soll Heilung gelingen, müssen Beziehungen und Lebensumstände Kranker in die Versorgung einbezogen werden. Die ökonomisch und technisch dominierte Medizin vernachlässigt die Bindungen des Menschen…
…Äußerlich ist dem Kind nichts anzumerken, tatsächlich ist es innerlich erstarrt
Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich, wie hilfreich es wäre, zu spüren, was man braucht, was einem zusetzt und was gut tut. “Mit sich selbst in Verbindung zu stehen und das vordergründig Unbemerkte im Körper wahrzunehmen, haben viele Menschen verlernt”, sagt von Arnim. Möglichst viele Körperfunktionen zu erfassen, die Anzahl der Schritte, die Herzfrequenz oder die Schlaftiefe digital zu dokumentieren, verspreche hingegen keine Abhilfe.
“Alles wird gemessen, aber nichts mehr gespürt”. Zudem stelle sich bei Anhängern des “Quantified Self” nicht unbedingt Zufriedenheit ein, sondern das Streben nach Selbstoptimierung gehe häufig mit einem erhöhten Tonus des Sympathikus einher: In der Folge stehe der Körper ständig unter Strom, sei empfänglicher für Schmerzen und chronische Entzündungen, sodass Infarkt, Schlaganfall und andere Leiden drohen.
Karl Heinz Brisch, Leiter der Psychosomatik am Haunerschen Kinderspital der Uni München, zeigte denn auch, wie wichtig es ist, Menschen stabil Sicherheit zu vermitteln. Für kleine Kinder gilt dies besonders. “Die primäre Bindungsperson sollte ein sicherer emotionaler Hafen sein, wobei es nicht unbedingt die biologische Mutter oder der Vater sein muss”, so der Kinderarzt. “Für eine verlässliche Beziehung sind keine genetischen Blutsbande nötig.”
Anhand verschiedener Videos zeigte Brisch eindrucksvoll, was passiert, wenn sich Kleinkinder nur unsicher oder gar nicht gebunden fühlen: “Das Bindungsbedürfnis ist wie ein Rauchmelder – durch Angst wird er aktiviert, durch Nähe heruntergeregelt.” Fühlen sich Kinder nah und sicher geborgen, steigt ihr Bedürfnis, ihre Umgebung zu erkunden und Neues zu probieren. Das fördert die kognitive Entwicklung und stärkt nebenbei den Organismus. Im Vergleich dazu bleiben ambivalent oder unsicher gebundene Kinder in ihrer körperlich wie geistigen Entwicklung zurück. Sie verharren und verkümmern, statt neugierig auf Unbekanntes zuzugehen.
In Filmaufnahmen zeigt sich das daran, wie Kleinkinder mit traumatischen Erfahrungen reagieren, wenn die Mutter den Raum verlässt. Auf den ersten Blick sieht es aus, als ob ihnen die angedeutete Verlusterfahrung nicht viel ausmacht, doch der Schein trügt. Tatsächlich erstarren die Kinder äußerlich wie innerlich. Als “emotional freezing” bezeichnen Bindungsexperten dieses Verhalten, eine Art Totstellreflex, der von Angst und Anspannung geprägt ist und das Kind in seiner Entwicklung beeinträchtigt. Eltern, die selbst emotionale Instabilität erfahren haben, geben ein Trauma auf diese Weise über Generationen weiter, wenn der Teufelskreis nicht therapeutisch durchbrochen wird.”
Hinweis: ©all copyrights: yvonne pouget; die auch auszugsweise Vervielfältigung und Verbreitung dieser im Sinne des deutschen Urhebergesetzes (UrhG) geschützten Workshop Konzepte und Skripts auf diesen Seiten, auch auszugsweise, sind ohne die schriftliche Einwilligung der Urheberin verboten.
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